Gebetsreise nach Auschwitz

„Mark, wie könnt ihr hier nur leben? An diesem Ort des Grauens, wo der Tod so präsent ist?“

Noch bevor wir ihm diese Frage stellen können, gibt Mark unsrer Gebetsgruppe schon die Antwort und erklärt, dass er und seine Frau Cathy häufig als erstes diese Frage hören. Mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit berichtet Mark von Gottes Vision für diesen Ort – einem Ort, an dem über eine Million Juden auf grausame, menschenverachtende Weise ermordet wurden. Nun soll hier ein Ort des Gebets und der Anbetung entstehen. Es liegt eine große Sicherheit in dem, was Mark sagt. Er weiß, warum er und seine Frau Cathy seit 2015 hier in Oświęcim sind, direkt vor den Toren des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Und er weiß vor allem, wer sie sind. Ein Licht in der Dunkelheit. Freudenboten, Hoffnungsträger und Lebensspender: „Wenn ihr da morgen reingeht, müsst ihr wissen, wer ihr seid! Ihr seid Kinder des lebendigen Gottes. Ihr seid Lichter. Schaut nicht auf das Dunkel und den Tod, sondern richtet euren Blick auf Jesus. Auf das Leben, auf die Hoffnung und das, was kommen wird.“

Den Blick auf Jesus richten. Das dürfen wir an diesem Abend ganz praktisch, denn es ist Freitag. Der Wochentag, an dem bei den Juden der Schabbat, der Ruhetag, beginnt. Cathy hat ein Challah-Brot für uns gebacken, das wir begeistert mit in unser Hotel nehmen und dort spontan den Schabbat feiern. Dabei erinnern wir uns an Jesu Sterben. Aber auch an seine Auferstehung. Beim Schmecken des Brotes und des Weins erahne ich in einer ganz neuen Tiefe, was es bedeutet, wenn Jesus zu seinen Jüngern beim letzten Abendmahl sagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“ (Joh. 6,35)

Den Blick auf Jesus gerichtet gehen wir am nächsten Tag durch die Tore von Auschwitz I und II. Und wirklich. Die Steine, die engen Gänge, die grauen Baracken – alles scheint das unfassbare Leid und die Unmenschlichkeit herauszuschreien, die hier jahrelang regiert haben. Ich bin negativ beeindruckt von der unglaublichen Größe der Lager, v.a. des Vernichtungslagers Auschwitz II, und der extrem durchorganisierten Struktur und Form des Ganzen. Ich kann und will es einfach nicht fassen, wie durchorganisiert dieses Verbrechen, wie unglaublich groß die Dimension und Unmenschlichkeit waren.

Ich erinnere mich an die Worte von Mark: „Ihr seid Lichter.“ Ich schleudere dem Grau und der Kälte der Steinwände, den engen Gängen und den nüchternen Worten unseres Tourguides dieses Licht förmlich entgegen. Und während ich als Licht durch die dunklen Gänge gehe, höre und singe ich innerlich immer wieder dieselbe Liedzeile: „You make beautiful things out of the dust“. Ja, Jesus macht alles neu. Er sagt: Schau nicht auf das Dunkel, nicht auf die Vergangenheit. Ich mache alles neu! Erkennst du es denn nicht? Ich habe schon damit begonnen! (Jesaja 43,18-19)

Das Fundament des Gebetshauses ist mittlerweile gelegt, der Rohbau steht. Auch wenn es gerade noch viel Vorstellungsvermögen und Vertrauen erfordert, um die Vision, das, was hier einmal sein wird, sehen und verwirklichen zu können: Die Pflanze der Hoffnung beginnt schon zu wachsen. In alle Dunkelheit und Angst ruft Jesus hinein: „Ich werde euch eine Zukunft geben.“ (Jer. 29,11) „Ich lebe und ihr sollt auch leben!“ (Joh. 14,19) Schon jetzt spürt man, dass dieses Gebetshaus ein Ort der Anbetung für den wahren König ist, ein Ort, von dem Leben und Heilung strömt. Für alle Nationen.

Das Gebetshaus ist aber auch ein Ort, an dem sich Nationen begegnen und in den Dialog treten. So, wie die sieben Bronzefiguren des Kunstwerks „Fountain of Tears“, das sich direkt gegenüber des Gebetshauses und Wohnhauses von Mark und Cathy befindet. Das Kunstwerk des israelisch-kanadischen Bildhauers und Künstlers Rick Wienecke zeigt einen KZ-Häftling im Dialog mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth. An jeweils sechs hellen Steinsäulen, an denen wie Tränen kaum sichtbar Wasser herunterläuft, sieht man die Gestalt des gekreuzigten Jesus an einzelnen Stellen aus dem Gestein hervortreten. Das Kreuz selbst ist nicht zu sehen. Jede Darstellung bezieht sich auf eine der letzten im Neuen Testament überlieferten Aussprüche Jesus. Ihm ist – in Bronze – jeweils ein KZ-Häftling gegenübergestellt. An einer Stelle sieht man sogar eine Nummer in den linken Arm von Jesus eingemeißelt: 1534. In Markus 15,34 steht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch der Häftling trägt eine Nummer im Arm. So sehr sind das Leiden Jesus und das Leiden des jüdischen Volkes miteinander verbunden. Genauso ist aber auch Jesu Sieg über Leben und Tod mit seinem Volk verbunden.

Bei der letzten Skulptur drückt Jesus mit der einen Hand einen KZ-Häftling an seine Brust, während er mit der anderen Hand triumphierend den Siegeskelch Richtung Himmel streckt. Es ist die letzte Figur des Kunstwerks. Sie zeigt den Trost und die Hoffnung, die bleibt: „Ich lebe und ihr sollt auch leben!“ (Joh. 14,19)

Magdalena